Dieser Artikel ist Teil unseres Tests zu den Kopfhörern Jabra Enhance. Möchtest du mehr über die Kopfhörer und ihre Funktionen erfahren, dann klicke hier:
Jabra Enhance: Kopfhörer oder doch Hörgerät?
Mac Life: Frau Dr. Wolter, Kopfhörer und Hörgeräte verschmelzen technisch immer weiter. Ist das aus Ihrer Sicht eher ein Segen oder ein Fluch?
Beides zugleich. Denn einerseits führen wir aus medizinischer Sicht die akute Zunahme von Innenohrschwerhörigkeit unter anderem auf den gestiegenen Gebrauch von Kopfhörern zurück. Auf der anderen Seite entwickelt sich nun eine Technologie, die den Schaden, den sie verursacht, ausgleichen will.
Wie groß ist das Problem des alltäglichen Gebrauchs von Kopfhörern tatsächlich?
Bei fast jedem fünften Jugendlichen in Deutschland finden wir mittlerweile ein nicht mehr altersgemäßes Gehör vor – eine Entwicklung, die es so vor ein paar Jahren noch nicht gab und die sehr besorgniserregend ist. Die Ergebnisse der Gutenberg-Gesundheitsstudie (GHS) aus diesem Jahr mit 5.000 stichprobenartig mit Tonaudiogrammen getesteten Erwachsenen ergab zudem, dass bei 40 Prozent der Teilnehmer:innen ein mindestens geringgradiger Hörschaden vorliegt – sie haben also zumindest 25 Prozent ihrer normalen Hörfähigkeit verloren.
In Zukunft erwartet uns also eine Armee von Hörgeräteträger:innen?
Laut einem WHO-Bericht vom vergangenen Februar ist bis 2050 weltweit mit über 2 Milliarden Menschen zu rechnen, die hörgeschädigt sind. Und 700 Millionen davon werden Rehabilitationsmaßnahmen benötigen.
Hinzu kommt sicherlich eine Dunkelziffer von Menschen, die nicht entsprechend diagnostiziert sind oder eine Diagnose scheuen.
Stimmt, denn es ist nach wie vor so, dass Hörgeräte mit einem Stigma von Alter, Demenz oder Behinderung verbunden sind. Wohl kein:e Jugendliche:r wird sich daher gern für ein Hörgerät entscheiden. Insofern finden Entwicklungen wie die Jabra Enhance schon eher bei dieser Zielgruppe Anklang.
Gleichzeitig ergeben sich daraus aber dieselben Probleme wie beim Gebrauch von regulären In-Ear-Kopfhörern.
Und genau das bewerte ich kritisch. Denn egal, ob Sie nun die Jabra Enhance oder die AirPods über mehrere Stunden am Tag und an mehreren Tagen in der Woche tragen, sind Sie einer potenziellen Lärmbelastung ausgesetzt. Zum Vergleich: Bei einer ähnlichen Belastung wären Arbeitgeber:innen verpflichtet, ihre Angestellten mit einem Lärmschutz zu schützen, um einer Hörschädigung als Berufskrankheit vorzubeugen. Jugendliche und viele andere Menschen tun sich diese Belastung ganz freiwillig an – und wissen es oft nicht mal.
Bei fast jedem fünften Jugendlichen in Deutschland finden wir mittlerweile ein nicht mehr altersgemäßes Gehör vor. — Dr. med. Veronika Wolter
Welche weiteren Probleme können entstehen?
In-Ear-Kopfhörer bergen grundsätzlich Potenzial für Verunreinigungen und sogar Entzündungen. Der Gehörgang ist natürlicherweise mit einer eigenen Hautflora besiedelt. Stecken Sie sich also die Ohrhörer hinein, klebt daran beim Herausnehmen immer etwas Ohrenschmalz inklusive der Keime. Legen Sie die Kopfhörer irgendwo ab, verschmutzen sie zusätzlich und externe Keine siedeln sich an. Desinfizieren Sie die Geräte daraufhin nicht, stecken Sie sich die dieselben Kopfhörer komplett mit allen Keimen wieder ins Ohr und erschaffen damit einen idealen Nährboden für bakterielle Infektionen. Dies erhöht sich noch dadurch, dass In-Ears den Gehörgang mehr oder minder fest verschließen. Dadurch entsteht ein Hitzestau – was das Bakterienwachstum wiederum beschleunigt. So züchten Sie sich eine richtige Bakterienkolonie im Gehörgang heran.
Eigentlich reinigt sich der Gehörgang selbst: Kleine Härchen befördern den Ohrenschmalz nach draußen. „Dank“ des Verschlusses durch die In-Ears ist dieser natürliche Mechanismus allerdings gestört – ein Problem, das viele Hörgeräteträger:innen kennen und daher regelmäßig zur Ohrenreinigung gehen oder unter Entzündungen leiden.
Das klingt nicht gut. Was kann ich dagegen tun?
Am besten reinigen Sie die Ohrhörer nach jedem Gebrauch mit einem Desinfektionstuch, um sie sauber wieder ins Ohr zu setzen – mindestens aber einmal täglich. Und optimalerweise sollten Sie auch die Ladeschale regelmäßig reinigen.
Produkte wie die Jabra Enhance stehen am Übergang zwischen Kopfhörer und Hörgerät. Besteht die Gefahr, dass so langfristig „Hörgeräte für arme Menschen“ entstehen?
Das ist eine interessante Frage. Wir können in Deutschland ein wenig stolz auf unser Gesundheitssystem sein. Wenn Sie hierzulande mit einer Hörgeräteverordnung von HNO-Ärzt:innen zu Akustiker:innen gehen, steht Ihnen ein staatlicher Zuschuss von derzeit rund 800 Euro pro Seite zu. Dafür bekommen Sie zwar nicht ein Gerät mit allen aktuellen technologischen Entwicklungen, aber zumindest eines, das den Hörverlust ausgleicht. Eine vergleichbare medizinisch fundierte Anbindung gibt es etwa in den USA nicht. Die hohen deutschen Standards sind also durchaus schützenswert. Wer einen diagnostizierten Hörschaden hat, sollte Kopfhörer mit Hörverbesserungsfunktion daher niemals als Ersatz für ein Hörgerät betrachten.
Doch auch in anderen Ländern, die nicht über eine gleichwertige Gesundheitsversorgung verfügen, sind hörverbessernde Kopfhörer nur eingeschränkt zu empfehlen. Wichtig ist eine beiliegende Software, die Einstellungen zur Lautstärke und der Dauer der Beschallung zulässt – ähnlich einer Kindersicherung. Denn wer sich mehr als zwei, drei Stunden täglich einem Schalldruckpegel von mehr als 80 Dezibel aussetzt, bekommt einen Lärmschaden – und dieser Wert ist ziemlich schnell erreicht. Besonders problematisch ist dies bei Kopfhörern ohne Geräuschreduzierung: Beim Versuch, die Umgebungsgeräusche akustisch zu übertönen, sind die erwähnten 80 Dezibel praktisch immer überschritten.
Dr. Veronika Wolter hat es sich zur Bestimmung gemacht, anderen Menschen zu einem bestmöglichen Hören und raus aus der Stille zu helfen. In ihrem Buch „Ich höre dich“ beschreibt die Chefärztin der Helios Hörklinik Oberbayern, wie sie ihre vermeintliche Schwäche in ihre größte Stärke verwandelte. Und sie zeigt, dass es sich lohnt, niemals aufzugeben.
Erschienen im Mai 2023 im Riva Verlag, 208 Seiten, 17 Euro
Wann raten Sie denn als Medizinerin zum Hörgerät?
Das ist ziemlich genau definiert: Wer in einer Frequenz schlechter als 25 Dezibel hört und somit – anders ausgedrückt – einen Hörverlust von 25 Prozent hat, sollte ein Hörgerät nutzen. Das trifft heutzutage auf fast 100 Prozent der über 60-jährigen, aber auch schon auf 20 Prozent der Jugendlichen zu. Aber nicht mal die Hälfte der Menschen, die eigentlich ein Hörgerät benötigen, tragen eines.
Was sind die Indikatoren für einen Hörverlust im Alltag?
Typischerweise wird das Umfeld und nicht die Person selbst auf eine Verschlechterung aufmerksam. Denn viele denken, Gesprächspartner:innen reden zu leise oder die Lautstärke des Fernsehers ist zu gering eingestellt. Betroffene suchen also das Problem eher in ihrem Umfeld.
Vor allem Situationen mit starken Nebengeräuschen bereiten Menschen mit zunehmend schlechtem Gehör Probleme – wir sprechen hier vom „Cocktail-Effekt“: Leute reden, das Geschirr klappert, im Hintergrund spielt Musik. Besonders die Zischlaute gehen dann in Gesprächen oft unter: s, f und sch. Dadurch entfällt die Präzision in der Sprachwahrnehmung. Das Empfinden für tiefe Töne und Lautstärken hält sich in der Regel hingegen weitaus länger.
Kopfhörer erhalten immer mehr Funktionen und eignen sich durch ihren Sitz am oder im Ohr auch bestens zur medizinischen Überwachung. Erwarten Sie daher in Zukunft eine noch weitere Verbreitung von Kopfhörern im Alltag?
Ich hoffe nicht (lacht). Für mich als Medizinerin ist es eher besorgniserregend, in die U-Bahn oder einen Flieger zu steigen und jede:r Zweite hat mittlerweile die weißen AirPods in den Ohren. Ich stelle mir dann immer vor, wie die mit dem Hörnerv verbundenen Härchen in den Ohren drangsaliert werden, irgendwann abknicken und damit kaputtgehen. Das verursacht einen unwiderruflichen Nervenschaden im Ohr – eigentlich müssten Apple und andere Kopfhörerunternehmen mit einem Warnhinweis darauf aufmerksam machen.
Ich würde mir also wünschen, dass das Bewusstsein dafür, was sich Menschen damit antun, steigt. Die beste Form der Medizin ist schließlich, nicht zu erkranken.
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