Stolperhafter Werdegang

Twitter in der Krise?

Twitter, der Underdog unter den sozialen Netzwerken. Seit elf Jahren weiß das Netzwerk zu begeistern und zu enttäuschen: kulturell bahnbrechend, gesellschaftlich kontrovers. Ein Abriss zum Netzwerk und dem Unternehmen.

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Der Kurznachrichtendienst Twitter ist in aller Munde. Für die meisten durch die stete Nutzung des US-Präsidenten Donald J. Trump. Für langjährige Nutzer der Plattform vor allem durch ständige Fehltritte des Unternehmens. In beiden Fällen aber gleich: die laute und beständige Kritik an Twitter. Dabei gilt der Unmut sowohl dem Unternehmen, als auch der Plattform und ihrer Funktionen. Der Gegenwind ist nicht neu: Probleme plagen Twitter seit der ersten Stunde. Das sind mittlerweile elf Jahre. Zeit also für einen kleinen Rückblick.

Twitters Bedeutung

Der Kurznachrichtendienst startete im Frühjahr 2006 als SMS-Dienst. Daher resultiert auch das berühmte Limit von 140 Zeichen für jeden Tweet – eine einzelne SMS umfasst nämlich 160 Zeichen. Die übrigen 20 Zeichen reservierte Twitter für den Nutzernamen. Bereits kurze Zeit nach dem Start wuchsen die Nutzerzahlen rasant. In den ersten Jahren kam es daher zu wiederholten und andauernden Ausfällen des Dienstes aufgrund von Überlastungen.

Damals wie heute kämpfte Twitter mit seinem Einsatzzweck. Für viele Nutzer ist die Plattform eine beliebte Anlaufstelle für Trivialitäten. Oder Gespräche unter Freunden und Bekannten. Doch daneben etablierte sich der Dienst schnell als wichtige und vor allem schnelle Informationsquelle. Als im Januar 2009 ein Flugzeug im New Yorker Hudson River notlanden musste, ging sofort ein Foto des Vorfalls um die Welt. Dieses Foto stammte aber nicht etwa von Journalisten, sondern einem Twitter-Nutzer. Während der US-Wahlen im November 2016 war Twitter das soziale Netzwerk mit der meisten Nutzung und eine wichtige Quelle für sogenannte Breaking-News.

Twitter prägt darüber hinaus auch das kulturelle Leben. Ein Selfie der Oscar-Moderatorin Ellen DeGeneres zur 86. Verleihung der Hollywood-Auszeichnungen erreichte millionenfache Retweets, also Wiederveröffentlichungen, im Netzwerk. Zum Halbfinale der Fußball-Weltmeisterschaft im Jahr 2014 zwischen Brasilien und Deutschland diskutierten Fans das Spiel in aller Welt: Mehr als 35 Millionen Tweets kommentierten das legendäre 1:7. In einem erheblich kleineren Rahmen lässt sich die Popularität des Netzwerks auch an jedem Sonntagabend nachvollziehen: Dann versammeln sich Krimi-Fans unter dem Hashtag #tatort auf Twitter und kommentieren den Krimi im „Ersten“.

#HEYTWITTER

Satire-Aktion gegen Hasskommentare

Twitters Umgang mit Hasskommentaren ist schon lange ein Thema im Netzwerk. In den Nutzungsbedingungen gibt es klare Aussagen zu dem Thema seitens Twitter: „Belästigungen, Drohungen und Hass schürendes Verhalten” sind nicht geduldet. Das Unternehmen reagiert aber nur zögerlich auf Beschwerden bezüglich dieser Inhalte. Der Satiriker Shahak Shapira hat diesen Umstand im August 2017 auf die Spitze getrieben: Hunderte anstößige, gemeldete, aber nicht gelöschte Tweets sprühte er vor den Hamburger Twitter-Sitz. Die Aktion namens #HEYTWITTER brachte weltweites Aufsehen und Nachahmungen mit sich.

Nutzer erfinden Funktionen

Populäre Internet-Funktionen wie der Retweet oder das Hashtag wären ohne Twitter undenkbar. Oder besser: ohne die Twitter-Nutzer. Besonders in den frühen Zeiten prägten die Nutzer Ideen und Funktionen des Netzwerks. Twitter-Nutzer Chris Messina schlug im August 2007 das Hashtag zur Verschlagwortung vor. Das Unternehmen Twitter lehnte diesen Vorschlag aber zunächst ab. Bei den Nutzern etablierte sich diese leichte Kategorisierung von Tweets aber schnell. Erst im Juli 2009 zog das Unternehmen nach. Seitdem können Nutzer Hashtags auch anklicken und so eine Übersicht aller Tweets mit jenem Schlagwort erhalten. Heute ist diese Funktion bei Netzwerken wie Facebook, Instagram und Tumblr ebenfalls integriert und unverzichtbar.

Das Teilen von Tweets, sogenannte Retweets, entstammen ebenfalls der Twitter-Community. Erste Nutzer teilten Tweets auf diesem Wege bereits im April 2007 – damals noch durch das händische Kopieren und Einfügen von Nachrichten. Vor der geteilten Nachricht schrieben sie Dinge wie „Retweet“ oder einfach nur „RT“. Auch diese Konvention verbreitete sich schnell. Twitter zog im November 2009 nach und machte den Retweet zur offiziellen Twitter-Funktion.

Ebenso die Erwähnungen einzelner Nutzer: Nachrichten mit einem @-Symbol gefolgt von einem Nutzernamen adressieren den erwähnten Nutzer. Diese Tweet-Konvention entstand bereits im November 2006 und erhielt im Frühjahr 2007 eine offizielle Funktion auf Twitters Internetseite.

Twitters Fehltritte

Neben diesem guten Draht zur eigenen Nutzerschaft hat sich Twitter aber auch einige Fehltritte erlaubt – im Umgang mit der Community, mit neuen Funktionen und mit App-Entwicklern.

Twitters Geschichte ist eine Geschichte von Experimenten. Auch heute noch fällt es schwer, den Dienst zu beschreiben. Eben weil Twitter vieles für viele ist. Oftmals scheint es, dass Twitter selbst nicht so ganz weiß, was es ist und sein kann. Das zeigt sich besonders deutlich bei Twitters Akquise anderer Unternehmen und Plattformen. Zum Beispiel von Vine. Das Videonetzwerk nutzte das Twitter-Prinzip für Videos statt Texte. Nutzer konnten Videos mit einer Laufzeit von bis zu sechs Sekunden aufnehmen und auf Vine teilen. Twitter kaufte die Plattform im Oktober 2012. Vier Jahre später kündigte man das Ende der Plattform an. Heute ist aus dem Netzwerk eine App geworden. Diese kann zwar immer noch sechssekündige Videos aufzeichnen, das eigenständige Netzwerk existiert aber nicht mehr. Die Nutzer haben die Plattform für Netzwerke wie Instagram und Snapchat verlassen.

Noch kürzer lebte Twitters eigenständige Musik-App. Mit #Music verband Twitter Musik-bezogene Tweets und Musiker in einer eigenen Anwendung. Der Dienst sollte Nutzern beim Entdecken neuer Musik helfen. Für Künstler sollte es leichter werden, mit den eigenen Fans zu kommunizieren. Die App startete im April 2013, genau ein Jahr später war schon wieder Schluss. Diese gescheiterten Experimente irritierte viele Nutzer.

Ähnlich erbost und ratlos sind die vielen Anbieter von Twitter-Apps gegenüber dem Konzern. In den Anfangstagen der Plattform waren es vor allem sie, die dem Netzwerk zur gesteigerten Popularität verhalfen. Twitter kaufte daher die populäre iPhone-App Tweetie im Jahr 2010. Zwei Jahre später beschränkte das Unternehmen die Schnittstellen für Drittentwickler. Viele beliebte Dienste und Apps mussten dadurch eingestellt werden. Im Jahr 2015 nahm der neue Twitter-Chef und -Mitbegründer Jack Dorsey diese Einschränkungen wieder zurück und versucht seitdem Entwickler zu besänftigen.

Darüber hinaus irritiert und verärgert die Plattform ihre eigenen Nutzer durch das Experimentieren an den wichtigsten Funktionen. Und zeugt erneut von großem Unverständnis gegenüber der eigenen Community. So änderte Twitter im Dezember 2013 die Block-Funktion zu einer Stummschalt-Funktion. Vor der Änderung war es möglich, unliebsame Nutzer am Folgen und Interagieren zu hindern, sie also komplett zu blockieren. Dies änderte Twitter aber, sodass Beleidigungen und Drohungen lediglich unsichtbar für die betroffenen Nutzer wurden. Der Gegenwind war so enorm, dass Twitter diese Änderungen kurze Zeit später wieder zurücknahm.

Die größten Änderungen sind aber jüngster Natur. So setzt der Dienst seit Februar 2016 verstärkt auf die algorithmische Darstellung von Tweets. In der Twitter-Timeline sehen Sie daher nicht mehr zuerst die neuesten Tweets anderer Nutzer, sondern eine Nachrichtenauswahl. Diese stellt ein Algorithmus für die Nutzer nach deren Vorlieben und Interessen zusammen. Auch diese Funktion unterzog sich einer großen Kritik aus der Twitter-Community. Als Kompromiss können Nutzer diese Ansicht in den Einstellungen deaktivieren.

In frühen Tagen prägten vor allem Nutzer Konventionen von Twitter. Hier die erste Erwähnung anderer Nutzer mittels @-Zeichen.
In frühen Tagen prägten vor allem Nutzer Konventionen von Twitter. Hier die erste Erwähnung anderer Nutzer mittels @-Zeichen. (Bild: Screenshot)

Dieser Tweet macht mit dem Vorschlag von Hashtags Geschichte.
Dieser Tweet macht mit dem Vorschlag von Hashtags Geschichte. (Bild: Screenshot)

In den frühen Tagen kopierten Nutzer die Nachrichten anderer per Hand und nutzten so „Retweets“.
In den frühen Tagen kopierten Nutzer die Nachrichten anderer per Hand und nutzten so „Retweets“. (Bild: Screenshot)

Ähnlichen Unmut zog eine Änderung der Erwähnungen im Frühjahr 2017 auf sich. Seitdem ist es leichter anderen zu antworten, aber komplizierter zu sehen, wer diese Antwort erhält. Die Folge: Antwortketten gehen an eine riesige Gruppe Beteiligter, von denen die wenigsten aber die Antwort interessiert. Statt sich zu zweit zu unterhalten, erhalten dutzende markierte Twitter-Nutzer die Benachrichtigungen. Nutzer können diese Massenunterhaltungen aber zum Glück selbst stummschalten.

Im September 2017 experimentierte Twitter dann aber mit der größten Änderung an der Plattform. Die Zeichenlänge von Tweets verdoppelten sich von 140 auf 280 Zeichen. Alteingesessene Nutzer kritisierten auch diesen Schritt und spotteten über das anstehende Geschwätz dank des doppelten Platzes. Mittlerweile ist aus dem Experiment eine Änderung für alle geworden. Auf der Webseite und in den Mobil- und Desktop-Apps von Twitter ist der Zeichenzähler sogar komplett verschwunden. Damit hat Twitter eine neue Funktion gewonnen, aber nach Meinung vieler langjähriger Nutzer einen Teil seiner Identität eingebüßt.

Kritik an Twitter

Die Kritik richtet sich aber nicht nur an die Plattform, sondern auch und besonders an das Unternehmen selbst. Bis heute strauchelt Twitter bei der Monetarisierung der Plattform. Elf Jahre nach dem Start und ein Börsengang später ist immer noch vieles unklar. Wie viele Nutzer beheimatet die Plattform eigentlich? Twitter zählt die monatlich aktiven Nutzer auf rund 330 Millionen. Zum Vergleich: Facebook zählt 2 Milliarden solcher Nutzer, Instagram 700 Millionen und die Schätzungen zu Snapchat stehen bei rund 250 Millionen. Twitter ist also streng genommen gar kein Internetriese wie Facebook. Stattdessen droht mit Snapchat ein starker, junger Konkurrent, weitere Marktanteile zu gewinnen.

Das enorme Wachstum der Startjahre hat sich ebenfalls entspannt. Einen Gewinn hat Twitter bis dato ebenfalls nie erzielt. Der Aktienkurs befindet sich seit dem Börsenstart im Jahr 2013 auf dem absteigenden Ast.

All dies spiegelt Twitters langjährige Ziellosigkeit wieder. Das Unternehmen experimentiert ständig an der Plattform, bleibt ohne eine erkennbare Vision. Der Mitbegründer und erster Firmenchef Jack Dorsey sitzt heute erneut im Chefsessel des Konzerns, nachdem er zwischen 2008 und 2015 den Posten räumen musste. Doch auch ihm fehlt eine erkennbare Vision gegenüber seiner eigenen Kreation. Während Steve Jobs erst nach seiner Rückkehr zu Apple der Firma zu neuen und ungeahnten Höhenflügen verhelfen konnte, fehlt Dorsey dieser Karriereschritt. Stattdessen stehen weiterhin Plattform und Unternehmen unter heftiger Kritik, besonders von langjährigen Fans des sozialen Netzwerks.

Ein mögliches Ziel könnte die Übernahme durch ein anderes Unternehmen sein. Regelmäßig brodelt es dazu in der Gerüchteküche – zuletzt im Herbst 2016 mit potenziellen Käufern wie Microsoft, Alphabet oder der Walt Disney Company. Diese Gespräche scheiterten aber angeblich alle an Twitters enormen Problemen im Umgang mit Hasskommentaren.

Diese sind für das Unternehmen mittlerweile zum großen Problem geworden. Nutzer beklagen sich seit Jahren über Twitters Umgang mit Anschuldigungen, Beleidigungen und sogar Morddrohungen. Twitter reagiert aber nur träge auf diese Vorwürfe oder Löschanträge gegenüber diesen Inhalten. Dabei ist Twitters populärstes Mitglied ein gutes Beispiel für den Umgang des Unternehmens mit solchen Hasskommentaren: Der US-Präsident Donald J. Trump twittert nicht nur flapsige Pamphlete oder politische Inhalte über den Kurznachrichtendienst. Er beleidigt, provoziert und droht mit seinen Tweets. Damit widerspricht er den Nutzungsbedingungen der Plattform. Das Unternehmen lässt ihn aber. Twitter ist damit zwar in aller Munde, aber selten in einem guten Licht.

Fazit

Twitter hat nach elf Jahren einen langen und beschwerlichen Weg hinter sich. Der Kurznachrichtendienst fasziniert nach wie vor Millionen von Menschen bei der regelmäßigen Benutzung. Kurzweilige Scherzchen, Breaking-News und ein direkter Draht zu Promis machen den Dienst zu einem besonderen Kommunikationsmittel. Twitters Zukunft könnte davon abhängen, wie ernst Firmenchef Jack Dorsey und das gesamte Unternehmen an der Bekämpfung von Hasskommentaren arbeiten. Sonst könnte die Community erneut den Werdegang der Plattform nachhaltig prägen – durch Abwanderungen in andere Netzwerke.

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