Etwas süße Ironie liegt schon darin: Während die Technikwelt von der heutigen WWDC-Keynote die Präsentation der lang erwarteten AR-Brille aus Cupertino erwartet, stellte Google ein ähnlich wegweisendes Projekt im März dieses Jahres offiziell ein. Nach über zehn Jahren der Entwicklung und des Verkaufs ist Google Glass somit Geschichte.
Ein ambitioniertes Projekt
Erste Planungen für ein „Optical Head-Mounted Display“ (OHMD) begannen bei Google Anfang der 2010er-Jahre und mündeten 2011 in einem ersten Prototyp. Dieser war jedoch weit von jeglicher Serienreife entfernt – immerhin wog er nicht weniger als 3,6 Kilogramm, die wohl niemand auf der Nase tragen möchte. Dem experimentellen Charakter des „Google Project Glass“ gemäß entstammte die AR-Brille der „Google-X“-Sparte (heute schlicht „X“) unter Leitung des Firmen-Mitbegründers Sergey Brin, in der unter anderem auch die aktuellen KI-Grundlagen „Google Brain“ und „Deepmind“ sowie Googles Bemühungen um ein autonomes Fahren („Waymo“) ihren Ursprung fanden.
Im Jahr 2013 hatte die Entwicklung eine gewisse Marktreife entwickelt. So konnten die Google-Ingenieur:innen das Gewicht auf 57 Gramm senken – Google Glass wog damit weniger als eine typische Kassenbrille, die durchschnittlich auf 200 Gramm kommt. Und so lieferte Google im Frühjahr desselben Jahres die ersten Entwickler:innen-Modelle aus. Der Preis für die frühe „Explorer Edition“: 1.500 US-Dollar. Legten Interessent:innen nochmals 225 US-Dollar drauf, konnten sie Gestelle von namhaften Brillenherstellern wie Ray Ban und Oakley nutzen.
Im Mai 2014 startete der Verkauf für die Öffentlichkeit – wenn auch nur in limitierter Auflage und ausschließlich in den USA. Google betrachtete den eingeschränkten Marktstart als eine Art öffentliche Betaphase, um technische und soziale Aspekte der noch jungen Technologie bewerten zu können.
Verhaltene Reaktionen
Die Reaktionen fielen gemischt aus. Zeigten sich einige Expert:innen über die Möglichkeiten nahezu euphorisch, fiel die Bewertung in der Öffentlichkeit vielfach negativ aus. Soft- und Hardware erschienen nicht ausgereift, die Batterieleistung von gerade einmal vier Stunden pro Aufladung zu gering und der Preis für Konsument:innen zu hoch. Hinzu kam das futuristische, ungewohnte Aussehen der Datenbrille – in den USA entstand für Träger:innen gar der abwertende Begriff der „Glassholes“.
Das jedoch größte Problem war der Datenschutz: Anders als beim Smartphone können mit einer Smartglass praktisch jederzeit Foto- und Videoaufnahmen entstehen. Dies führte zu zum Teil heftigen Reaktionen: Kinoketten und Spielcasinos in den USA untersagten das Tragen von Google Glass in ihren Sälen, die Ukraine und die Russische Föderation verboten den Verkauf sogar ganz, da die Länder die Datenbrille als potenzielles Spionagewerkzeug einstuften.
Apple plante offenbar noch vor Google eine AR-Brille auf den Markt zu bringen: Nach Berichten des britischen „Daily Telegraph“ arbeitete ein Team um den iPod-Erfinder Tony Faddell (der später interessanterweise die Google Glass optimierte) bereits 2006 an einem ähnlichen Produkt. Laut Faddel sollte es ein immersives Entertainment-Erlebnis wie in einem Theater liefern. Ein entsprechendes Patent war bereits angemeldet.
Warum ist es aber nie erschienen? Apple konzentrierte sich damals auf die Weiterentwicklung des iPod sowie die Entwicklung des iPhone. „Wir hatten so viel Erfolg mit unseren bestehenden Projekten, dass uns für neue einfach keine Zeit blieb“, erinnerte sich Tony Fadell im Rückblick.
Profi-Werkzeug für Medizin, Industrie und Unternehmen
So passierte, was passieren musste: Google stellte 2015 den öffentlichen Verkauf des AR-Pioniers ein. Zum Aufgeben war der Datenriese jedoch noch nicht bereit: Die zweite Inkarnation richtete sich im Jahr 2017 gezielt an professionelle Interessent:innen. Die „Google Glass Enterprise Edition“, unter anderem von Ex-Apple-Mitarbeiter und iPod-Erfinder Tony Faddell optimiert, sollte Nutzer:innen etwa im medizinischen und industriellen Umfeld mit relevanten Informationen bei der Ausübung ihrer Arbeit unterstützen, ohne dass diese ein Zusatzgerät in die Hand nehmen mussten. Eine 2019 veröffentlichte, nochmals verbesserte Version kam zum günstigeren Preis von 1.100 US-Dollar auf den Markt, blieb aber weiter Unternehmen vorbehalten.
Trotz einer gewissen Akzeptanz im professionellen Bereich blieb der kommerzielle Erfolg aus – wie so oft bei technischen Pionierleistungen. Und so stellte Google die Entwicklung der ikonischen Datenbrille am 15. März 2023 schließlich ganz ein; die Klappe für die Unterstützung mit Software-Updates fällt im kommenden September. Expert:innen schätzen, dass der Suchmaschinenriese bis heute knapp 400 Millionen US-Dollar in das Projekt investiert hat.
Mini-Computer in Brillenform
Entgegen weit verbreiteter Annahmen handelt es sich bei Google Glass um mehr als „nur“ eine optische Erweiterung für ein verbundenes Smartphone. Das Smartdevice ist vielmehr ein eigener Computer in Brillenform, in dessen Innerem je nach Generation Qualcomm- respektive Intel-Atom-SoCs werkeln. Die finale „Enterprise Edition 2“ lieferte Google mit 3 GB RAM aus, der Festspeicher fasst bis zu 32 GB. Die Aufladung des internen Akkus erfolgt per USB-C-Verbindung. Die Sichtfeld-Kamera löst mit 8 Megapixeln auf, ein Glasprisma projiziert die Ausgaben mit einer Auflösung von 640 mal 360 Pixeln in den Sichtbereich des Brillenglases. Antennen für Bluetooth und WLAN sorgen für die drahtlose Konnektivität. Verschiedene Sensoren zeichnen etwa die Kopfbewegungen der Träger:innen auf.
Als Betriebssystem kommen verschiedene optimierte Android-Versionen zum Einsatz. Die begleitende „Myglass“-App stellte Google für Android-Smartphones und das iPhone bereit. Zu den unterstützten Anwendungen gehört unter anderem die Darstellung von Textnachrichten, E-Mails und Social-Media-Posts, die Aufnahme von Fotos und Videos, das Abspielen von Musik sowie die Navigation mithilfe von Google Maps.
Das Ende von Googles AR-Plänen?
Bedeutet das Ende von Glass die Einstellung aller AR-Hardwareentwicklungen bei Google? Wahrscheinlich nicht. Denn im Rahmen der Entwickler:innen-Konferenz „Google I/O“ gab Google im vergangenen Jahr einen ersten Ausblick auf ein neues Projekt, das sich an eine weitaus größere Zielgruppe wenden könnte: Eine AR-Brille, die optisch entfernt an ein klassisches Ray-Ban-Modell erinnert, stellt ihre Ausgaben direkt auf dem Brillenglas dar – und verzichtet somit auf das auffällige Prisma von Google Glass.
Als Anwendungsbeispiel zeigte Google unter anderem die Echtzeitübersetzung von Englisch nach Mandarin-Chinesisch und umgekehrt – wahrlich nicht die einfachste Aufgabe. Aber auch gehörlose Menschen sollen von der Textdarstellung gesprochener Worte profitieren. Zukunftsmusik ist dies nicht: Bereits heute bieten Googles Pixel-Smartphones und Pixel-Buds-Kopfhörer eine ähnliche Funktionalität – Google müsste sie also „nur“ auf eine AR-Brille übertragen.
Weitere Anwendungen liegen auf der Hand: die Darstellung von Nachrichten, die Navigation mit Google Maps, Zusatzinformationen etwa bei Kunst- und Museumsbesuchen, stets aktuelle Abflugzeiten – die Möglichkeiten sind immens.
Einen Produktnamen oder gar ein Veröffentlichungsdatum für eine marktreife Version nannte Google noch nicht. Apples zu erwartendes Vorpreschen könnte den Entwickler:innen in Mountain View aktuelle Anhaltspunkte für eine Akzeptanz der AR-Technologie liefern.
Apple kann von Googles Erfahrungen lernen
Was kann umgekehrt Apple von Googles Pionierarbeit lernen? Zumindest auf lange Sicht darf Apples AR-Brille nicht zu teuer sein, um den Massenmarkt zu erreichen – die Preise für ein iPhone könnten hier als Richtmaß gelten, wie viel anspruchsvolle Konsument:innen für mobile Technik aus Cupertino auszugeben bereit sind. Zweitens muss die Softwareausstattung nach einer überschaubaren Entwicklungsperiode vielfältig und vor allem alltagstauglich sein. Apple ist dabei mit einer produktiven Entwickler:innen-Gemeinde tendenziell besser aufgestellt als Google – nicht zuletzt, weil Apps in Apples App Store weitaus lukrativer zu vermarkten sind als in Googles Play Store.
Die schwerwiegendsten Bedenken, die Apple zerstreuen muss, betreffen jedoch den Datenschutz. Zwar genießt der iPhone-Hersteller in dieser Hinsicht ein sehr viel größeres öffentliches Vertrauen als Google, trotzdem stellen sich dieselben Herausforderungen: Wie sind etwa unerwünschte Foto- und Videoaufnahmen zu unterbinden? Hinzu kommen Fragen der Sicherheit, zum Beispiel im Straßenverkehr.
Und schließlich muss Apple eine breite Öffentlichkeit vom Nutzen einer Technologie überzeugen, die ihren Weg zumindest in den Alltag noch nicht gefunden hat – über Spiele und Spezialanwendungen hinaus. Google ist dies mit seinem Glass-Projekt nicht gelungen – wahrscheinlich war es seiner Zeit schlicht voraus. Wenn jedoch eine Marke die Strahlkraft hat, eine Technik in der öffentlichen Wahrnehmung zu verankern, dann ist es Apple.
Weitere Berichte und Tests über und von Google-Produkten findest du auf unserer Schwester-Website onchrome.de.
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