Beat / Du vergleichst deine Musik unter dem Namen Pharmakustik regelmäßig mit Medizin. Ist die heutige Musikszene denn krank?
Siegmar Fricke / Für mich steht fest, dass die wirklich innovativen Impulse in der heutigen Musikszene vom experimentellen Underground, kleinen Labels und der Klangforschung im elektronischen Sektor ausgehen. Fakt ist aber auch, dass alle musikalischen Stilrichtungen gleichberechtigt das Gesamtbild der Gegenwart prägen und nebeneinander bestehen; dabei ist die „Pharmakustik“ eine Alternative von vielen, die elektronische Musik durch innovative Strukturen und Klangbearbeitung weiterzuentwickeln und interessanter zu gestalteten. Der Begriff, also die Symbiose aus „Pharma“ und „Akustik“ traf wesentlich genauer als bereits bestehende den Kern der Sache: das Sezieren von Klängen, die Implantation von Klangbausteinen in einen neuen musikalischen Organismus, der sich in Form eines Tracks manifestiert.
Beat / Wo siehst du konkrete Parallelen zwischen einer Klinik und deiner musikalischen Herangehensweise im Studio?
Siegmar Fricke / Mein Interesse an der Medizin entstand rein aus der musikalischen Forschertätigkeit heraus. Im Jahre 1988 habe ich mit meinen musikalischen Kollegen Miguel A. Ruiz und Stefano Barban in Italien ein erstes gemeinsames Tape unter dem Pseudonym „Ambulatorio Segreto“ produziert. Unser gemeinsamer Eindruck war, dass die darauf enthaltenen Stücke wie Soundtracks zu medizinischen Dokumentarfilmen klangen. Diesen Ansatz habe ich dann in meinen frühen Soloarbeiten während der Tapeszene zwischen 1988 und 1993 weiter verfolgt und kontinuierlich verfeinert. Die Herangehensweise im Studio ist reine Klangchirurgie: Es wird seziert, implantiert, granuliert und moduliert. Kompromissloses, freies Experimentieren, ohne irgendeine musikalische Erwartungshaltung erfüllen zu müssen.
Beat / Ist die Metapher der Medizin mehr eine ästhetische Frage für dich oder hat sie auch zu einem grundlegend anderen Vorgehen geführt?
Siegmar Fricke / In erster Linie interessiert mich die Beziehung meiner Klangskulpturen zum medizinischen Gehalt. Das Ziel ist eine subjektive klangliche Veranschaulichung medizinischer Vorgänge. Musik und Medizin sind sicherlich auch zwei Wissenschaften, die eng beieinander liegen und deren Übergänge fließend sind: Man kann die Schwingungsvorgänge im menschlichen Körper während des Hörvorgangs im Oszillographen visuell darstellen. Die Klangcharakteristik der Pharmakustik lässt sich folgendermaßen beschreiben: klinischer und abstrakter Sound, granulare Rhythmusfragmente ohne wiederkehrende Patterns, elektronische Modulationen, aseptische Ambientflächen, transparente Strukturen, industrielles Sounddesign, collagenartige Verknüpfungen, klangliche Modifikationen durch zahllose Bearbeitungsschritte sowie die Implantation von vocodertransformierten Stimmen ins Klangbild. Parallel dazu betreibe ich Internetrecherchen, um nach medizinischen Termini zu suchen, die ich dann später als Titel für die entstandenen Klangskulpturen auswählen kann. Dabei spielt eine große Rolle, dass die medizinischen Begriffe in ihrer Bedeutung den klanglichen Gehalt erklären und untermalen. Pharmakustik beinhaltet zudem Bildbearbeitung und Covergestaltung, die ich selbst vornehme.
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